Thomas Merton ( 1915 -1968 )
STUNDENBUCH
Das erste Zirpen der erwachenden Vögel kennzeichnet den
„point vierge“ der Morgendämmerung unter einem Himmel,
der noch ohne wirkliches Licht ist, ein Augenblick der Scheu
und unaussprechlicher Unschuld, wenn der VATER in vollstän-
diger Stille ihre Augen öffnet.
Sie beginnen mit IHM zu sprechen, nicht in flüssigem Gesang,
sondern mit aufdämmernder Frage, die ihrer Verfassung ent-
spricht; das ist ihr Zustand in der Morgendämmerung, ihre
Situation an diesem „point vierge“. Sie sind an einem Punkt,
an dem die Frage mit ihnen erwacht, ob es Zeit für sie sei zu
„sein“? ER antwortet mit: „Ja.“
Dann erwachen sie, einer nach dem anderen, und werden
Vögel. Sie offenbaren sich als Vögel, indem sie zu singen be-
ginnen. Bald werden sie ganz sie selbst sein und sogar fliegen.
Unterdessen beginnt der wunderbarste Augenblick des Tages:
wenn die Schöpfung in ihrer Unschuld um Erlaubnis bittet, von
neuem „sein“ zu dürfen, wie sie es am allerersten Morgen ge-
tan hat.
Die Weisheit des Alls versucht sich selbst an diesem blinden
süßen Zeitpunkt zu sammeln und in Erscheinung zu treten…
So erwachen sie wieder: Zuerst die Spottdrosseln und Kardi-
näle. Später die Sperlinge und Zaunkönige. Zuletzt die Tauben
und die Krähen.
Hier offenbart sich ein unaussprechliches Geheimnis: wir sind
vom Paradies umgeben und begreifen es nicht. Es ist weit ge-
öffnet, aber wir begreifen es nicht.
Thomas Merton. A book of hours. Sorin Books, 2007